Berichte
aus dem Schulleben und den Fachbereichen
Vom NVA-Offizier zum politischen Häftling: Der Zeitzeuge Karl-Heinz Rutsch am MWG
Da die Q12 in der 10. Klasse aufgrund der bekannten Corona-Einschränkungen auf eine Berlin-Fahrt verzichten musste, deren zentraler Programmpunkt immer ein Zeitzeugengespräch ist, konnten wir zum Ende des Semesters 12/1 die Schülerinnen und Schüler zumindest hinsichtlich dieses Unterfangens etwas entschädigen. Statt der beiden Geschichtsstunden konnten die jungen Menschen am 11. Januar 2023 der Vita eines DDR-Dissidenten folgen, der sich vom glühenden Anhänger der DDR zu einem Republikflüchtling wandelte:
Karl-Heinz Rutsch, Jahrgang 1940, berichtete detailreich von seinen Erlebnissen im SED-Staat, dessen Bürger er von 1949 bis 1983 gewesen war. Nach einer Kindheit, die ihn eigentlich zum DDR-Musterbürger hätte sozialisieren können, da Herr Rutsch nach eigener Aussage als Kind für den Sozialismus und die DDR „brannte“, begannen im Jugendalter die Zweifel am real existierenden Sozialismus zu wachsen. Gerade deswegen entschloss sich der junge Mann, eine Offizierskarriere bei der Nationalen Volksarmee der DDR einzuschlagen. Eine Entscheidung, die zunächst widersinnig erschienen mag. Aber Herr Rutsch meinte, als NVA-Angehöriger bessere Chancen zur Flucht zu haben als andere DDR-Bürger. Leider wurde sein Fluchtversuch vereitelt. Er erhielt u.a., weil er als Offizier zum „Republikflüchtling“ geworden war, die Höchststrafe von 15 Jahren. Von diesen musste er zehn Jahre absitzen. Die sehr anschaulichen Schilderungen der Haftbedingen im Regelvollzug, der deutlich schlimmer gewesen sei, als die Haft im Stasi-Untersuchungsgefängnis, führten den jungen Zuhörerinnen und Zuhörern anschaulich vor Ohren, dass die DDR alles andere als ein Rechtsstaat gewesen ist, nostalgische Verklärung also nicht opportun ist. Die restliche Strafe wurde dem mittlerweile über Dreißigjährigen allerdings nicht wegen guter Führung oder aus Menschenfreundlichkeit des SED-Regimes erlassen, sondern weil ihn die Bundesrepublik 1983 freikaufte. Die genaue Summe sei ihm nicht bekannt. Dass Herr Rutsch dem bankrotten Staat wertvolle Devisen gebracht hatte, steht aber außer Frage. Für Fragen des sehr aufmerksamen und interessierten Plenums hingegen blieb leider am Ende nicht mehr ausreichend Zeit.
Trotzdem waren die persönlichen Schilderungen des Zeitzeugen für viele Zuhörerinnen und Zuhörer eine wichtige Ergänzung des theoretisch vermittelten Unterrichtsstoffs, die ihnen auch emotional die Schattenseiten der zweiten deutschen Diktatur nahebrachte.
Unser Dank gilt Herrn Karl Heinz Rutsch, dem Evangelischen Bildungswerk Oberfranken Mitte e.V., das uns den Kontakt ermöglichte, und v.a. dem Förderverein unserer Schule, ohne dessen finanzielle Unterstützung diese beiden besonderen Schulstunden nicht hätten stattfinden können.
Maresa Olschner